Nachhilfe und Begabtenförderung: Widerspruch oder gemeinsamer Kern?
Begabtenförderung

Nachhilfe und Begabtenförderung: Widerspruch oder gemeinsamer Kern?

Nachhilfe für die 'Schwächeren', Begabtenförderung für die 'Stärkeren' – so scheint es auf den ersten Blick. Doch warum beide Ansätze mehr gemeinsam haben, als viele denken.
Vincent Zhang
Vincent Zhang

7 Min. Lesezeit

Zwei Welten, die sich näher sind als gedacht

Wenn Eltern über Nachhilfe nachdenken, geschieht das oft aus Sorge: "Mein Kind kommt nicht mehr mit, wir brauchen dringend Unterstützung." Bei der Begabtenförderung klingt es ganz anders: "Mein Kind ist unterfordert und braucht mehr Herausforderungen."

Diese unterschiedlichen Ausgangspunkte lassen Nachhilfe und Begabtenförderung wie zwei komplett verschiedene Welten erscheinen – Nachhilfe für die "Schwächeren", Begabtenförderung für die "Stärkeren". Doch aus meiner langjährigen Erfahrung als Tutor bei den Mathe-Helden kann ich sagen: Diese Unterscheidung ist nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheint.

Dieser Artikel basiert auf einem ausführlichen Gastbeitrag, den wir für netz-familie.ch verfasst haben.

Was Eltern von Nachhilfe erwarten

Wenn Eltern nach Nachhilfe suchen, steckt meist eine konkrete Sorge dahinter. Da sind die Lücken im Schulstoff, wo ein Kind bestimmte Grundlagen verpasst oder nie richtig verstanden hat. Das Ziel ist klar: Diese Lücken schliessen und im Unterricht wieder mitkommen können. Oft entsteht auch Prüfungsdruck, wenn die nächste Mathematikprüfung vor der Tür steht und die Angst davor wächst. Hier geht es dann um optimale Prüfungsvorbereitung und darum zu lernen, wie man mit Prüfungsstress umgeht.

Besonders häufig begegne ich Kindern mit mangelndem Selbstvertrauen. Diese haben oft das Gefühl, "schlechter" zu sein als ihre Mitschüler. Sie verlieren dadurch sowohl Motivation als auch das nötige Selbstvertrauen für erfolgreiches Lernen – beides soll durch Nachhilfe zurückgewonnen werden.

Was Begabtenförderung ausmacht

Begabtenförderung scheint das Gegenteil zu sein: Hier geht es nicht ums Aufholen, sondern ums Vorwärtsgehen. Kinder, die sich im Unterricht langweilen, weil sie alles bereits verstanden haben, brauchen eine andere Art der Förderung. Sie benötigen mehr Tiefe in den Lerninhalten, mehr Komplexität in den Aufgabenstellungen und mehr Raum zum selbständigen Entdecken.

Stellen Sie sich vor: Ein Kind rechnet bereits im Kopf, während die Klasse noch das kleine Einmaleins mit den Fingern übt. Es sitzt da, langweilt sich und verliert das Interesse am Unterricht. Die Gefahr ist gross, dass solche Kinder abschalten – nicht weil sie es nicht könnten, sondern weil sie nicht ausreichend gefördert und herausgefordert werden. Begabtenförderung bedeutet also, den natürlichen Wissensdurst des Kindes ernst zu nehmen und es gezielt zu fördern.

Ein Praxisbeispiel: Als Nachhilfe zu Begabtenförderung wurde

Vor einigen Jahren betreute ich Nico, einen Primarschüler, der eigentlich zur Nachhilfe kam. Ich dachte, ich würde ihm wie anderen Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Doch schon beim ersten Treffen war klar: Nico war unterfordert.

Er löste alle Hausaufgaben mühelos und verstand den Schulstoff bestens. Während andere Kinder seines Alters noch mit Grundoperationen kämpften, löste er Aufgaben im Kopf und wollte "etwas Schwierigeres".

Wir wagten uns gemeinsam an die Algebra – normalerweise erst viel später im Lehrplan. Plötzlich rechneten wir mit x, y und z. Nico war fasziniert davon, wie man Gleichungen umformen kann und wie aus Buchstaben Zahlen werden. Innerhalb weniger Wochen tüftelte er begeistert an Aufgaben für deutlich ältere Schüler.

Für Nico wurde "Nachhilfe" zur Entdeckungsreise. Es ging nicht um Lückenschliessung, sondern um Motivation und das Öffnen neuer Türen. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Nachhilfe und Begabtenförderung.

Der gemeinsame Kern: Individuelle Begleitung

Dieses Beispiel mit Nico zeigt deutlich: Es spielt weniger eine Rolle, ob ein Kind als "schwächer" oder "stärker" eingestuft wird. In beiden Fällen geht es letztendlich darum, ein Kind genau dort abzuholen, wo es gerade steht. Denn sowohl Nachhilfe als auch Begabtenförderung haben im Grunde denselben Kern.

Beide Ansätze setzen auf individuelle Begleitung, die auf die spezifischen Bedürfnisse eines einzelnen Kindes eingeht und nicht auf den Durchschnitt einer Schulklasse blickt. Das übergeordnete Ziel ist immer dasselbe: Freude am Lernen zu entwickeln oder wieder zu entdecken – sei es durch das erfolgreiche Überwinden von Schwierigkeiten oder durch das Erkunden neuer, spannender Herausforderungen. Schlussendlich zielen beide Ansätze darauf ab, das individuelle Potenzial jedes Kindes zu entwickeln und zu entfalten.

Die Rolle des Tutors: Dolmetscher zwischen Schule und Kind

Als Tutor verstehe ich mich als eine Art Dolmetscher zwischen der Schule und dem Kind. Meine Aufgabe ist es herauszufinden, wie ein Kind denkt, wo es gerade in seinem Lernprozess steht und was es konkret braucht, um Fortschritte zu machen. Manchmal bedeutet das, geduldig die Grundlagen zu wiederholen und dabei verschiedene Erklärungsansätze auszuprobieren. In anderen Fällen heisst es, mutig neue Themen einzuführen, die im regulären Lehrplan noch gar nicht vorgesehen sind.

Entscheidend ist dabei die innere Haltung: Nicht starr an den Begriffen "Nachhilfe" oder "Begabtenförderung" festzuhalten, sondern jedem Kind mit echter Offenheit zu begegnen. Ich folge dabei dem Schweizer Motto "Luege, lose, usprobiere" – genau hinschauen, aufmerksam zuhören und verschiedene Ansätze ausprobieren, bis der Funke überspringt.

Praktische Orientierung für Eltern

Viele Eltern stehen ratlos da und fragen sich: "Braucht mein Kind jetzt eigentlich Nachhilfe oder Begabtenförderung?" Aus meiner Erfahrung heraus kann ich einige praktische Orientierungshilfen geben.

Zunächst ist es wichtig, das eigene Kind genau zu beobachten. Wirkt es beim Lernen überfordert, ängstlich und gestresst? Oder zeigt es sich eher gelangweilt, unruhig und scheint unterfordert zu sein? Diese Beobachtungen geben bereits erste wichtige Hinweise auf die Richtung der benötigten Unterstützung.

Ebenso wertvoll sind offene Gespräche – sowohl mit den Lehrpersonen in der Schule als auch mit Experten, die eine neutrale Einschätzung abgeben können. Oft wird dabei übersehen, wie wichtig es ist, das Kind selbst zu fragen. Kinder können häufig erstaunlich präzise beschreiben, was sie in ihrem Lernprozess brauchen, wenn man ihnen aufmerksam zuhört.

Dabei sollten Eltern auch die natürlichen Grenzen respektieren. Nicht jedes Kind braucht ständig zusätzliche Förderung oder Unterstützung. Manchmal ist es sogar wichtig, dass Kinder lernen, mit Langeweile konstruktiv umzugehen oder selbstständig Strategien für ihre Herausforderungen zu entwickeln.

Die Möglichkeiten sind vielfältig

Unabhängig von der anfänglichen Kategorisierung eröffnet individuelle Lernbegleitung vielfältige Möglichkeiten. Für Kinder, die zunächst als "schwächer" wahrgenommen werden, kann gezielte Nachhilfe den belastenden Leistungsdruck wegnehmen, wichtige Grundlagen systematisch festigen und verloren gegangene Motivation wieder zurückbringen.

Gleichzeitig kann zusätzliche Förderung für vermeintlich "stärkere" Kinder deren natürliche Neugier wecken, ihre Kreativität gezielt fördern und echte Lust auf das Erkunden neuer Wissensbereiche entfachen.

Doch das Wichtigste gilt für alle Kinder gleichermassen: Persönliche, individuelle Begleitung vermittelt jedem Kind das wertvolle Gefühl, mit seinen spezifischen Bedürfnissen ernst genommen und verstanden zu werden. Und genau das ist oft der entscheidende Schlüssel zu einem gesunden Lernweg und nachhaltigem Lernerfolg.

Fazit: Kein Widerspruch, sondern gemeinsames Ziel

Die Frage, ob Nachhilfe und Begabtenförderung widersprüchlich sind, lässt sich klar beantworten: Nein, sie widersprechen sich nicht. Beide verfolgen das Ziel, Kinder dort abzuholen, wo sie stehen, und ihnen zu helfen, ihr Potenzial zu entfalten.

Ob das bedeutet, Unsicherheiten abzubauen oder neue Herausforderungen zu schaffen – dieser Unterschied ist zweitrangig. Wichtig ist, dass Kinder erkennen: Lernen kann spannend sein, und sie werden unterstützt, falls etwas unklar ist.

Als Tutor darf ich Kinder in ganz unterschiedlichen Situationen unterstützen – mal als Brücke über ein Hindernis, mal als Türöffner in eine neue Welt. Am schönsten ist es immer, wenn ein Kind strahlend sagt: "Ahhh, jetzt check ich's!"


Den vollständigen Gastbeitrag lesen Sie hier auf netz-familie.ch

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